Don’t Nod hat eine lange Tradition in der Entwicklung von narrativ orientierten Spielen. Tatsächlich hat das gesamte Entwicklerteam seit 2016 den Zweck des Studios gefestigt, indem es sich Indie- und Originalspielen mit starkem Schwerpunkt auf der Erzählung widmet. Im Zeitalter von Live-Service-Titeln, AAA-Blockbustern und riesigen Open-World-Spielen, in denen Geschichten oft stiefmütterlich behandelt werden, ist ihr Engagement selten und lobenswert. Trotz ihrer zahlreichen Bemühungen, erzählerische Videospiele voranzutreiben, ist es dem Team bisher nicht gelungen, einen wirklichen Durchbruch zu erzielen, einen Titel, der die Massen fesselt. Ob das hier gelingt wird sich zeigen, aber unsere Meinung wollen wir euch im Test natürlich gerne mitteilen.
Die Story gehört zu den besten des Entwicklerstudios
Dennoch ist Don’t Nod wieder einmal seinem Ziel treu geblieben, ein einfallsreiches, erzählerisch orientiertes Spiel zu entwickeln. Und dieses Mal hat es sich in höchstem Maße ausgezahlt. Harmony: The Fall of Reverie ist vielleicht die beste Geschichte, die sie bisher geschrieben haben. Harmony tarnt sich als eine viel einfachere Geschichte, als sie in Wirklichkeit ist. Polly, oder Harmony in Reverie, kehrt nach Jahren der Abwesenheit nach Atina zurück, weil sie erfährt, dass ihre Mutter verschwunden ist.Erst nach ihrer Rückkehr wird sie plötzlich in eine andere Welt transportiert, Reverie, eine Welt in völliger Unordnung.Nachdem sie durch verschiedene Dimensionen gereist ist, soll sie bestimmen, wer die Herrschaft über diese geheimnisvolle Welt übernehmen soll. In der Reverie gibt es sechs „Aspirationen“, die alle um die Macht wetteifern. Jede von ihnen repräsentiert die Bestrebungen der Menschheit:Ruhm, Glückseligkeit, Macht, Chaos, Bindung und Wahrheit. Und am Ende der Geschichte wird durch unsere Entscheidungen eine dieser Bestrebungen die Oberhand gewinnen.
Aber das ist nur die Geschichte, die man auf die Rückseite des Covers schreiben würde.
Worum es in Harmony unter der Oberfläche wirklich geht, ist die schmerzhafte Realität der Gentrifizierung durch gesichtslose Megakonzerne (in diesem Fall Mono Konzern) und wie Gemeinschaften auseinandergerissen werden, wie viel Geschichte verloren geht, wie Individualität und Widerspruch abgeschliffen werden und wie Journalisten, Akademiker und Künstler zum Schweigen gebracht werden, weil sie für die Wahrheit eintreten. Durch die Entscheidungen, die wir in der realen Welt von Atina treffen, und die Entscheidungen, denen wir in Reverie folgen, verflechten sich die Wege und beeinflussen sich gegenseitig auf unvorhersehbare Weise. Wenn ihr euch in Reverie für ein Ziel entscheidet, wird sich das auch darauf auswirken, wie unsere Charaktere mit dem drohenden Problem des Mono-Konzerns umgehen. Doch viel mehr möchten wir dann über die Geschichte nicht verraten, da dies viel kaputt machen würde.
Ein einfach erscheinender, aber wunderschöner Grafikstil
Der Grafikstil von Harmony ist unglaublich einzigartig im Repertoire von Don’t Nod. Sonst eher bekannt für 3D-Animationen, stellt Harmony eine massive Abweichung von der Norm dar, indem es komplett auf 2D umsteigt und sich für einen eher anime-esken Ansatz entscheidet. Ähnlich dem Stil von Avatar: The Legend of Korra und Invincible. Und die Entwickler nutzen die Kunst als cleveres Mittel zum Erzählen von Geschichten. Wenn wir uns in Alma befinden, sind alle Gebäude in ein sanftes, goldenes Licht getaucht, das vor Farben nur so trieft. Im Gegensatz dazu ragen auf der Rückseite der Gebäude in Alma Wolkenkratzer und Bürogebäude empor, eine deutliche Erinnerung an den Einfluss von MK auf die Einwohner der Stadt. Wenn wir in Reverie sind, fühlt sich alles so unwirklich an. Es wirkt nicht von dieser Welt und doch sehr menschlich.
Jede Aspiration hat ihr eigenes Zuhause, das jeweils sehr irdischen Orten nachempfunden ist. Das Haus der Herrlichkeit ist ein Nachtclub, das Haus der Macht ist eine brüchige Kathedrale, die sich anfühlt, als sei sie nur für die Mächtigen gedacht, und das Haus des Chaos wirkt wie ein Mischmasch aus zufälligen Dingen. Harmony ist ein unglaublich schönes Spiel, von Anfang bis Ende. Jeder Schauplatz hat diesen wunderbaren warmen Unterton, der dafür sorgt, dass man sich in jeder einzelnen Szene zum ersten Mal seit langer Zeit wieder wie zu Hause fühlt. Noch dazu kommen die schön gezeichneten Portaits der Charaktere, die beim Sprechen immer animiert sind und sich so von den sonst statischen Bildern im Genre abgrenzen können.
Typische Visual Novel, doch fühlt es sich dennoch frisch an
Ich kann den ganzen Tag lang die Geschichte und die Grafik von Harmony loben, aber man sollte trotzdem nicht vergessen, dass das Spiel durch und durch eine Visual Novel ist. Wenn euch das Spielprinzip von Visual Novels nicht zusagt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihr enttäuscht sein werdet. Es gibt natürlich Spiele, die sich wie eine Visual Novel anfühlen, dies aber gekonnt verstecken, wie zum Beispiel Disco Elysium. Dies ist hier nicht der Fall, denn es wird sich nicht davor versteckt, das man hier die meiste Zeit mit Zuhören und Lesen verbingen wird. Wie in jeder Visual Novel interagiert man mit den Charakteren, und die Dialogoptionen und Aktionen, die man wählt, haben Auswirkungen auf die gesamte Geschichte. Bei jeder anderen Entscheidung, die ihr trefft, baut ihr Kristalle, die jeweils für ein Ziel stehen.
Und durch das Sammeln dieser Kristalle werdet ihr schließlich zum Ende eines bestimmten Pfades geführt. Harmony ist insofern etwas Besonderes, als dass man die Verzweigungen sehen kann und das Spiel eine solide Illusion von Wahlmöglichkeiten vermittelt. Und natürlich kann man seine Optionen nicht mehr ändern, wenn man sich einmal entschieden hat. Es sei denn, man startet einen neuen Spielstand, aber das würde ich nicht empfehlen, denn mit den getroffenen Entscheidungen zu leben, hat viel mehr Auswirkungen, als man vielleicht erwartet. Das Hauptproblem von Harmony ist, dass es durch seine Struktur als Visual Novel eingeschränkt ist und es schwer ist, es als etwas anderes zu sehen als genau das. Obwohl es keinen Versuch unternimmt, etwas anderes zu sein, kann das Spiel aufgrund seiner Beschränkungen ziemlich schwer für diejenigen zu empfehlen sein, die normalerweise keine Visual Novels mögen würden. Für diejenigen, die sich von diesem Stil angesprochen fühlen, ist dies jedoch eine hervorragende Veröffentlichung, die man nicht verpassen sollte.
Fazit
Harmony: The Fall of Reverie ist durch und durch eine Visual Novel und wird niemand bekehren, der damit nichts anfangen kann. Wer sich aber einmal mit dem Spiel beschäftigt, wird neben des tollen Grafikstils eine großartige Geschichte erleben, die im Genre mit zu den besten zählt.
Positiv:
+ intelligente und vielschichtige Story
+ stimmige Optik
+ schöne Animationen der Charakterportäts
+ Zukunftsblicke bieten neuen Ansatz des Genres
Negativ:
– Nicht alle Entscheidungen mit gleichem Gewicht
– Vorraussetzungen und Freischaltung für Events teilweise unklar
– Welt wirkt klein und eindimensional