In nicht mal mehr einem Monat wird Cyberpunk 2077 für PC und Konsolen erscheinen, und die Erwartungen sind beiderseits – von Zockern wie auch den Verantwortlichen – enorm hoch. Wird es das Spiel des Jahres? Oder des Jahrzehnts? Werden die Verkaufszahlen CD Projekt Red zu einem der größten Videospielentwickler, nicht nur von Europa, sondern der ganzen Welt machen? Und hat sich CD Projekt Red nicht genau das verdient? Immerhin belästigt das Studio die Spieler nicht mit zwielichtigen Mikrotransaktionen oder Lootboxen wie es Electronic Arts oder Ubisoft tun – das sind schließlich die Buhmänner der Videospielindustrie! Und das coole, hippe Unternehmen aus Polen, die Keanu Reeves auf ihrer Seite haben, das sind die Guten!
Doch abseits der schönen Politur findet sich eine unschöne, altbekannte Realität: Keanu Reeves hat sicherlich keine einzige Zeile Code für Cyberpunk 2077 geschrieben – das machen die Programmierer von CD Projekt Red, und diese leiden unter demselben Symptom, an der es in der Videospielindustrie so massenhaft krankt: dem Crunch. Für alle, an denen es bis jetzt vorbeigegangen ist: der Begriff „Crunch Time“ beschreibt die Zeit, in der Programmierer Extraschichten für das Spiel, an dem sie arbeiten, einlegen müssen. Dies geschieht meist am Ende einer Entwicklungsperiode, wenn die Zeit knapp wird und noch viel an Feinschliff (oder manchmal mehr) zu erledigen ist. Während dieses Crunch arbeiten die Zuständigen aber nicht 48 Stunden, also acht Stunden über einem Vollzeitvertrag mehr, sondern befinden sich in unterschiedlichen bekannten Fällen bis zu 70 bis zu 100 Stunden pro Woche an ihrem Arbeitsplatz. Wer das hochgerechnet haben möchte: Bei 100 Stunden Arbeit plus 8 Stunden Schlaf pro Tag befinden wir uns schon bei 156 Stunden – und eine Woche hat nur 168 Stunden! Das bedeutet, wenn man montags um 8 Uhr morgens beginnen würde, erst am Sonntag 12 Uhr mittags mit der Arbeit fertig wäre, und einem dann 12 Stunden Freizeit blieben. Und dieses theoretische Beispiel setzt voraus, das die Entwickler gleich in Schlafsäcken am Arbeitsplatz schlafen, um sich Zeit für den Heimweg zu ersparen – was in manchen Fällen schon wirklich vorgekommen ist.
Doch anstatt Zahlenspiele im Kopf anzustellen, sollten wir uns lieber harte Fakten ansehen: Angestellte bei Rockstar gaben an, für Read Dead Redemption 2 regelmäßig 60 Stunden die Woche gearbeitet zu haben, Mitbegründer Dan Houser meinte sogar, dass das für die Story verantwortliche Team für drei Wochen über 100 Stunden gearbeitet hat. Mega-Seller Fortnite verlangt den Angestellten bei Epic regelmäßig 70- bis 100-Stunden-Wochen seit Release ab. Genaue Zahlen bei EA sind nicht bekannt, allerdings gibt die Aussage eines Mitarbeiters mehr Aufschluss darüber; dieser meinte, dass es während der Entwicklung von Mass Effect Andromeda und Anthem – zweiteren Titel versuchte man sogar durch Crunch zu „retten“ – unzählige Opfer von Stress („stress casualties“) gab. Auch kleinere Studios wie das inzwischen geschlossene Telltale Games forderte seinen Entwicklern alles ab, um den konstanten Strom an veröffentlichen Spielen nicht abreißen zu lassen.
Doch das sind alles bereits bekannte Tatsachen; wohin macht auch sieht in der Videospielbranche, die Zuständigen leiden unter den fürchterlichen Bedingungen. So auch bei CD Projekt Red – über den Verlauf des Jahres 2020 wurden immer mehr Stimmen laut, die meinten, dass der interne Crunch dort besonders hart ausfällt. Dennoch versucht die dortige Führungsriege unter allen Umständen zu verschleiern, welch widrige Umstände sie ihren Untergebenen zumuten – und das obwohl CD Projekt weiterhin „cruncht“, entgegen den Versprechen, die bei The Witcher 3 gemacht wurden, dass man nie mehr auf Crunch zurückgreifen würde. Die Wahrheit? Ein ehemaliger Entwickler beschreibt auf Reddit die Konditionen während Cyberpunk 2077:
Der User, der lieber anonym bleiben möchte, beschreibt die toxischen Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und -nehmer, bei der letztere zu zwei Jahren Crunch verpflichtet werden, und dazu auffordern, ab Juni 2019 weitere 16 Stunden an Wochenenden zu arbeiten. Bei Beschwerden erhalten die Entwickler nur eine Standard-Textnachricht mit generischen Inhalt wie „Wir werden von unserer Leidenschaft angetrieben…“ und ähnlichem. Natürlich erhält man nach polnischem Arbeitsrecht Kompensation für die ganzen Überstunden, das rechtfertigt die Handhabe von CD Projekt Red jedoch in keinster Weise. Jason Schreier hat bereits mehrmals auf die missliche Situation über diverse Kanäle hingewiesen, erhält von der Gaming-Community jedoch keinen Zuspruch – ganz im Gegenteil:
Jedes Mal wenn Schreier oder andere Journalisten etwas Schlechtes über die Verhältnisse innerhalb des polnischen Entwicklers berichten, werden Fans wütend, suchen Ausreden für das Studio zu finden, deklarieren die Nachricht schlicht als falsch oder beschimpfen den betreffenden Reporter einfach persönlich. Der Grund dafür ist so simpel wie auch dämlich: diese Leute wollen nicht, dass der Titel, auf den sie sich schon seit Jahren freuen, mit etwas so Niederträchtigem wie Ausbeutung behaftet ist. Lieber üben sie sich in Ignoranz. Es ist momentan sehr angesagt über Firmen wie EA schlecht zu reden, da diese im Ansehen bei „Pro Gamern“ sowieso bereits ganz unten stehen, doch im Falle von CD Projekt Red? „Nein, das sind die besten, denn The Witcher 3 war ein RPG-Meilenstein, und Keanu Reeves ist der coolste Typ überhaupt, und wir müssen Night City mit ihm in Schutt und Asche legen.“
Der Autor dieser Zeilen war vor einem Jahr auf der E3, und auch er hat sich von dem enormen Jubel als Keanu Reeves während des Cyberpunk 2077-Präsentation mitreißen lassen, und wird sich das Spiel zum Release nachhause holen, auch wenn die Entwicklung besagten Spieles moralisch bedenklich ist, doch gibt es einen Unterschied, ob man in dieser Hinsicht ein Auge zudrückt oder beide Auge trotz der vielen Hinweise aus Ignoranz fest verschlossen hält, und zu behaupten, alles wäre okay. Das ist es nämlich nicht, und der erste Schritt um ein solches Problem zu lösen, liegt daran zuzugeben, dass es überhaupt eines gibt. Und dies wäre ein guter Zeitpunkt sich einzugestehen, dass CD Projekt Red intern in Flammen steht – egal, wie gut das Spiel ist, das sie letztendlich abliefern.