Review: Tell Me Why Kapitel 1 – Interaktives Drama mit LGBT-Einflüssen, Vorurteilen und Kobolden

In der Videospielbranche sind Dontnod Entertainment schon lange kein unbeschriebenes Blatt mehr. Der große Durchbruch gelang im Jahr 2015 mit Life is Strange, einem interaktiven Drama das in fünf Episoden erzählt wurde und zahlreiche Spieler an den Bildschirm fesselte. Der spannenden Geschichte von Chloe und Max folgte 2018 der numerisch zweite Ableger der Reihe, in dem die Brüder Sean und Daniel im Mittelpunkt standen. Trotz eines holprigen Endes bewies man auch dort erneut, dass man auf erzählerischer Ebene unangefochten an der Spitze steht. Damit das auch so bleibt, steht mit Tell Me Why aktuell der nächste Streich vor der Türe. Auch dort befindet sich ein Geschwister-Paar im Fokus der Handlung, diesmal jedoch mit einer feinen Besonderheit. Worum es sich dabei handelt und wie sich Tyler und Alyson im ersten von drei Kapiteln mit ihrer Vergangenheit herumschlagen, das verraten wir euch jetzt in unserem Test.

Die Schatten der Vergangenheit

Der Einstieg in Tell Me Why erfolgt rätselhaft, denn in einer Rückblende sehen wir ein kleines Mädchen verängstigt auf einer Polizeistation, ihre Unschuld vor dem hiesigen Sheriff beteuernd. Kurz darauf ändert sich die Szenerie, genauer gesagt zehn Jahre nach diesem kryptischen Vorfall. Das Bild schwenkt auf eine hübsche junge Frau, sowie auf einen gut aussehenden jungen Mann, womit die Geschichte von Alyson und Tyler auch schon direkt losgeht. Diese sehen sich zum ersten Mal seit dieser unheilvollen Nacht wieder, wobei sich in ihren Leben einiges getan hat. Die beiden waren früher nämlich Schwestern, ehe sich Tyler dazu entschloss, als Transgender-Mann zu leben. Diese Transformation musste er jedoch in einem Umerziehungslager für schwierige Teenager durchstehen, ohne der Hilfe seiner Zwillingsschwester. Wieso er dorthin geschickt wurde, was in dieser Nacht vor zehn Jahren passiert ist und warum die jungen Erwachsenen ihrem leerstehenden Elternhaus einen Besuch abstatten, das müsst ihr in Kapitel 1 selbst herausfinden.

Grafisch macht man einiges her in Tell Me Why.

Erwachsener Stil und Erinnerungen aus der Kindheit

Beim Start von Tell Me Why fällt einem sofort der erwachsene Stil auf, denn die Teenager-Zeiten der beiden Protagonisten sind schon lange vorbei. Vielmehr beschäftigen Tyler und Alyson andere, weitaus ernstere Themen, wo allen voran die Identifikation als Transgender an erster Linie steht. Auch wenn die Sexualität kaum bis gar nicht eine Rolle spielt, so wird dem Spieler gefühlt in jedem Gespräch mindestens einmal diese Thematik aufgezwungen. Das liegt zum Teil auch an den Erinnerungen der beiden, die sich besonders beim Besuch ihres Elternhaus intensivieren. Denn wie schon in Life Is Strange besitzt auch dieses Geschwisterpaar eine besondere Fähigkeit, mit der neben telepathischen Gesprächen auch Erinnerungen aus ihrer Kindheit rekonstruiert werden. Diese zeigen eine sehr unglückliche Vergangenheit und eine Mutter, die auf dem ersten Blick nicht einverstanden mit der Entscheidung ihrer Tochter als Junge zu leben, zu sein scheint.

An bestimmten Stellen könnt ihr Erinnerungen aus der Kindheit freischalten.

Mehr Drama, weniger Interaktion

Während in den beiden Ablegern zuvor die Fähigkeiten von Max und Daniel einen bestimmten Auslöser hatten, ist dies hier nicht der Fall. Von einem Moment auf den nächsten merken die Zwillinge von ihren Kräften, in Frage stellen oder ansprechen tun sie das jedoch im weiteren Verlauf kaum. Generell finden wenige interessante Konversationen statt, denn ständig schwingt die Vergangenheit und die schwierige Beziehung zu ihrer verstorbenen Mutter wie ein Damoklesschwert über den beiden. Aufmerksame Spieler können trotzdem einige gut versteckte sammelbare Objekte, die diesmal die Form von geschnitzten Spielfiguren haben, finden. Diese sind aus den Fantasien und den Geschichten der beiden empfunden, in denen Kobolde eine gewichtige Rolle spielen. Hier und da gilt es mal ein knackiges Rätsel zu lösen oder mittels rekonstruierten Erinnerungen neue Gesprächsinhalte freischalten. Diese kurzen Szenen sind eine nette Abwechslung zur sonst sehr geradlinigen Handlung, die ein ordentliches Tempo an den Tag legt.

Das Märchenbuch der beiden Geschwister strotzt nur so vor Details zu ihren lieb gewonnenen Kobolden.

Spielerisch ein Schritt zurück

Hier kommen wir nun zum großen Problem von Tell Me Why. Mit einer Spielzeit von rund 2 ½ Stunden ist man weitaus kürzer als die ersten Kapitel der Life Is Strange-Reihe. Diese fehlenden Spielminuten fallen diesmal leider sehr ins Gewicht, denn dadurch findet die Kennenlernphase mit den Protagonisten, sowie den Nebenfiguren deutlich holpriger statt. In den Gesprächen treten diese klischeehaft in alle Fettnäpfchen, die man aufzubieten hat. Das kann man zwar als gesellschaftskritisch auffassen, unbedingt besser macht es das aber trotzdem nicht. Erschwerend hinzu kommt, dass man den Spieler lange im Trüben fischen lässt und ihn gezielt zu falschen Entscheidungen drängt, ehe zum Ende des Kapitel die große Auflösung kommt. In puncto von stark Einfluss nehmenden Entscheidungen muss man hier ebenfalls Abstriche machen, denn diese sind nicht nur rar gesät, sondern fallen fast gar nicht ins Gewicht.

Die wenigen Charaktere lassen keine Klischees oder Fettnäpfchen aus.

Fazit

Entgegen seinen schöpferischen Vorgängern verpasst es Tell Me Why schon in Kapitel 1, den Spieler mit einer packenden Handlung zu fesseln. Das liegt nicht nur an der kurzen Spielzeit oder der kaum vorhandenen Kennenlernphase mit den beiden Protagonisten, sondern auch an der kryptisch erzählten Story. Aufgrund den nur gering ausschlaggebenden Entscheidungsmöglichkeiten fallen die wenigen, zum Teil uninteressanten Nebencharaktere auch nicht weiter ins Gewicht.  

Positiv:

+ Erwachsener Stil und schöne Optik

+ Detaillierte Kindheitserinnerungen mit Kobolden als fantasievolles Erzählelement

Negativ:

– Viel zu kurze Spielzeit, vor allem für das erste Kapitel, …

– …wodurch man kaum Bezug zu den Protagonisten aufbauen kann

– Zu wenig Interaktionsmöglichkeiten mit Gegenständen und dem Umfeld

– Kaum Entscheidungsmöglichkeiten, die ins Gewicht der Handlung fallen

– Langweilige Nebencharaktere Schema F

Tell Me Why Kapitel 1 erscheint am 27.August 2020 für PC und Xbox One.

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Written by: Manuel Barthes

Ehemaliger freier Redakteur bei Cerealkillerz