Emotionen stehen bei allem, was wir als Menschen tun, an vorderster Front. Sie können bestimmen, wie wir auf eine Situation reagieren, sie können uns verzehren, sie können ansteckend sein. Life is Strange: True Colors greift diesen Gedanken auf und nutzt ihn als treibenden Faktor im zweiten Versuch des Entwicklers Deck Nine, die Life is Strange-Franchise (nach ihrem erfolgreichen Vorstoß in Before The Storm) zu entwickeln. Ob das gelungen ist, erfahrt ihr natürlich in unserem Test.
Eine Stadt, die lebt
Alex Chen, die Hauptfigur von True Colors, ist eine Gefühlsperson. Eine wirklich mächtige noch dazu, die keinerlei Kontrolle über ihre Fähigkeiten hat. So wenig, dass sie ihr Leben kontrollieren, sie verzehren sie. Nach einer wahrhaft tragischen Erziehung, in der sie sich mit ihrer fast lähmenden Kraft auseinandersetzen musste, erhält Alex die Chance auf einen Neuanfang in der Rocky Mountain Stadt Haven Springs, Colorado, zusammen mit ihrem Bruder Gabe. Die Stadt Haven Springs selbst ist atemberaubend und ein perfekter Schauplatz für Life is Strange, wenn es je einen gegeben hat. Die idyllische und malerische Bergbaustadt Haven dient als perfekte Kulisse für eine Geschichte voller Intrigen, Geheimnisse und Herzschmerz.
Mit ihrer Hauptstraße, die mit einem verrückten Plattenladen, einer Cannabis-Apotheke, einem Blumenladen und einer örtlichen Kneipe vollgestopft ist. Aber was Haven zu einem solchen Nährboden für fesselnde Geschichten macht, sind seine Bewohner. Ja, es ist ein Klischee, das zu sagen, aber jeder Charakter in der Kleinstadt von True Colors ist bemerkenswert dreidimensional. Jeder hat seine eigene Persönlichkeit, seine eigenen Triebe, seine eigenen Ambitionen, seine eigenen Probleme. Und, was noch wichtiger ist, sie sind nicht einfach nur faule Klischees, die in eine Rolle gepresst werden. Das ist aber auch genügend, was über das Setting und die Charaktere des Spiels gesagt werden sollte, da man dies am besten ohne vorgefasste Meinungen selbst erleben sollte. True Colors ist ein Erlebnis voller Dramatik, das sensible Themen wie Trauer, Eifersucht, Wut und Kummer auf eine Art und Weise erforscht, die beim Spielen wirklich starke Emotionen hervorruft. So wie es eine gute Geschichte tun sollte.
Eine gefährliche Gefühlswelt
Deck Nine hat das für Life is Strange typische Erkundungssystem fortgesetzt. Ihr interagiert mit Gegenständen, um mehr Informationen über die Welt zu erhalten. Das Untersuchen von Fotos, das Betrachten von Flugblättern und das Lesen von Zeitungsausschnitten ist dabei eine großartige Möglichkeit, um mehr über die NPCs und die Geschichte der Stadt zu erfahren. Doch damit nicht genug, könnt ihr nun noch mehr herausfinden. Alex‘ einfühlsame Superkraft wird auch bei der Erkundung eingesetzt. Menschen hinterlassen eine Markierung auf Gegenständen, mit denen sie verbunden sind. Alex kann diese dann nutzen, um mehr über eine bestimmte Person herauszufinden, ihre Gedanken, ihre Gefühle. Wenn man z. B. eine Tasse in die Hand nimmt, kann man feststellen, dass jemand unter Arbeitsstress leidet. Oder wenn man ein Telefon in die Hand nimmt, kann man die Angst des Besitzers vor einem bestimmten Anruf erkennen. Und mit diesem Wissen hat man natürlich durchaus Vorteile in folgenden Gesprächen.
Daher funktionieren diese übernatürlichen Tricks sehr gut in dieser Geschichte über eine junge Frau, die lernt, ihre Emotionen zu verstehen. Aber die Logik ihrer Macht ist leider manchmal inkonsequent und ein wenig schwammig. Wenn jemand eine intensive Emotion empfindet, kann Alex oft von deren Anwesenheit überwältigt werden. Aber es gibt auch Zeiten, in denen diese Regel völlig vergessen wird. Sie hat die Macht, anderen ihre Gefühle zu nehmen, indem sie deren Emotionen absorbiert, aber das wirkt sich nicht wirklich auf ihren eigenen emotionalen Zustand aus. Das ist insgesamt kein Problem, aber es gibt Momente in der Geschichte, in denen sich ihre Macht wie ein Werkzeug des Autors anfühlt. Dann fühlt es sich nur wie ein Mittel zum Zweck an und nicht wie etwas organisches, das Alex verstehen und kontrollieren lernen muss.
Keine Wartezeit auf neue Episoden
Aufgrund des nicht-episodischen Charakters von True Colors könnte man fürchten, dass das Tempo ein wenig langsamer ist, da die Entwicklung aller Episoden auf einmal erzählerische Schwächen aufweisen könnte. Doch keine Sorge. Es gibt schon früh genug Intrigen, um euch zu fesseln. Aber nach nur einem Durchlauf ist es tatsächlich schwierig, die Auswirkungen der Entscheidungen und Konsequenzen zu erkennen, die man in True Colors trifft. Deck Nine gibt an, dass es sechs grundlegende Enden gibt, die sich nach euren Entscheidungen richten. Aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit Entscheidungen tatsächlich von Bedeutung sind. Aber auch ohne ist die Handlung interessant genug, um dran zu bleiben. Denn wenn man einmal in der Story drin ist, lässt diese einen so schnell nicht wieder los.
Denn während die Reise von Life is Strange 2 ein Kampf war, hat die Handlung von True Colors eine perfekte Balance aus Höhen und Tiefen. Und dies sorgt für eine Erfahrung, die sehr an das ursprünglichen Life is Strange und Before The Storm erinnert. Life is Strange: True Colors ist immer noch ein herzzerreißendes Erlebnis, aber es gibt eben auch ein paar wirklich schöne Momente. Dank des Skripts und der hervorragenden schauspielerischen Leistung, insbesondere von Alex Chens Synchronsprecherin Erika Mori, wirkt das Drehbuch von True Colors von Anfang bis Ende sehr durchdacht und stimmig.
Ein Soundtrack zum Eintauchen
Es wäre kein Life is Strange ohne einen hervorragenden Soundtrack, der sich durch das gesamte Spiel zieht. Und True Colors ist in dieser Hinsicht zum Glück nicht anders. Er ist nicht so stark wie der des Originals, aber auf eigene Art und Weise fantastisch. Mit ein bisschen Kings of Leon, einer Menge Angus & Julia Stone, etwas Bonobo und einer Reihe von Künstlern, von denen ich noch nie etwas gehört habe ist es wirklich schwer, an der gebotenen Musik etwas auszusetzen. Außerdem gibt es kaum eine andere Videospielserie, die ruhige Momente mit einem Hauch von innerem Monolog, der perfekt ausgewählten Musik gepaart mit einem wunderschönen Ambiente innerhalb des Spiels füllt. True Colors ist voll davon, aber auf eine gute Art!
Fazit
Wenn eines bei Life is Strange sicher ist, dann, dass Deck Nine die Serie wirklich versteht und weiß, was sie ausmacht. Während Life is Strange 2 eher deprimierend war und nicht wirklich dem entsprach, was wir an der Reihe lieben, ist True Colors eine echte Rückkehr zur Form. Ein Spiel, das auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnungslosigkeit und echter Freude wandelt. Life is Strange: True Colors bietet die perfekte Balance der Emotionen und erweist sich, wie das erste Spiel und der Ableger von Deck Nine, als ein weiteres Must Play.
Life is Strange: True Colors erschien am 9. September 2021 für Playstation 4, Playstation 5, Xbox One, Xbox Series, Nintendo Switch und PC.
Positiv:
+ großartig designte Stadt
+ gut geschriebene Charaktere
+ atmosphärischer Soundtrack
+ viele Extras zu entdecken
+ keine Episoden
+ sehr gute deutsche Vertonung
Negativ:
– Superkraft wirkt manchmal für die Geschichte zurechtgebogen
– keine wirklichen Rätsel
– NPCs halten grafisch nicht mit dem Rest mit
– Ruckler und Ladezeiten auf PS5