Jede und jeder von Euch hat schon mal ein Spiel erlebt, das Euch sofort gepackt hat. Das auf eine unerwartete Weise mit Euch resonierte. Ein Spiel, das Euch überrascht hat. Bei dem man von der ersten Sekunde an gemerkt hat, wie viel Herzblut drinsteckt. Das Euch zum Erkunden eingeladen hat. Ich hab viele Videospiele gespielt, Leute, und dieses Gefühl wird für mich immer seltener – vor allem im AAA-Bereich. Deshalb, wenn ich Euch sage, dass mich Clair Obscur: Expedition 33 von der ersten Sekunde an gepackt hat und mich während der gesamten Spielzeit nicht mehr losgelassen hat. Lehnt euch also zurück und lest unseren umfassenden Test.
Melancholisches Himmelfahrtskommando
Falls Ihr das Spiel noch nicht kennt: Clair Obscur: Expedition 33 hat einen ziemlich abgefahrenen Ausgangspunkt. Es gibt da dieses Wesen namens „Paintress“, und jedes Jahr malt sie eine neue Zahl. Und sobald sie das tut, sterben alle Menschen in diesem Alter. Puff. Einfach weg. Verstauben. Und das Schlimme ist: Sie zählt runter. Jedes Jahr sterben die Leute in einem jüngeren Alter, deshalb schickt das Volk von Lumière jedes Jahr eine Expedition – eine Gruppe von Freiwilligen, die noch genau ein Jahr zu leben haben – auf eine aussichtslose Mission: über das Meer zum Kontinent, um die Paintress zu töten. Damit sie nie wieder den Tod malen kann. Diese Expeditionen laufen schon eine ganze Weile, Ihr findet z. B. Notizen von „Expedition 84“. Wenn Ihr also halbwegs Kopfrechnen könnt, merkt Ihr schnell, wie verzweifelt die Lage ist. Und auch, wie jung (aber trotzdem älter als die meisten RPG-Hauptfiguren) Eure Truppe wirklich ist. Richtig abgefahren wird’s, sobald Eure Crew auf dem Kontinent landet. Kaum angekommen, treffen sie auf einen alten Mann, der beinahe die komplette Expedition im Alleingang auslöscht. Ihr spielt Gustave, einen der Überlebenden: traumatisiert, allein, umgeben von Leichen früherer Expeditionen und seiner eigenen. Gerade als er sich die Kugel geben will, taucht Lune auf, eine weitere Überlebende. Sie macht sich nichts vor – sie werden wahrscheinlich beide sterben. Aber Mitglieder einer Expedition schwören einen Eid: „Fällt einer, machen wir weiter.“ Solange noch jemand steht, ist der Kampf nicht vorbei.

Lune und Gustave liegen sich am Herzen, aber sie sind sich nicht immer einig. Als sie eine Nachricht finden, die darauf hindeutet, dass Maelle, ein weiteres Mitglied der Expedition, noch lebt, will Gustave alles stehen und liegen lassen, sie retten und abhauen. Lune dagegen vermutet eine Falle. Expedition-Mitglieder unterschreiben ihre Nachrichten immer, diese hier war anonym. Später fragt sie ihn sogar, ob er ein Feigling sei, weil er nur Maelle retten und fliehen will. Ist er nicht, er ist einfach am Ende, nachdem fast alle, die er kennt, gestorben sind. Und Lune? Die war’s, die entschieden hat, dass sie an genau diesem Strand landen sollen. Keiner von beiden hat es leicht. Aber sie sind echte Erwachsene und genauso sind sie auch geschrieben. Sie tragen Schuld, Trauer, Zweifel und sind sich nicht immer einig. Aber sie kümmern sich umeinander. Und am Ende dieses Streits? Teilen sie sich ein Lachen. Starke Figuren sind komplex und fehlerhaft und Expedition 33 hat das verstanden. Selbst wenn das nicht so wäre, könnte sich Expedition 33 allein über seine Welt definieren. Dazu muss ich sagen, dass die Dungeons mit Abzweigungen, versteckten Kletterpunkten, Sprungpassagen, versteckten Items und kniffligen Gegnern dennoch etwas simpler gehalten sind und mich an Final Fantasy XVI erinnerten. Schlauchig, aber imposant und voller Entdeckungen. Aber das hier ist kein Open-World-Spiel. Und das ist gut so. Es erinnert mich am meisten an Lost Odyssey, relativ linear, aber wunderschön. Ob auf einem Hügel mit Blick auf den Indigo-Baum oder unter Wasser, ohne wirklich unter Wasser zu sein: Expedition 33 ist ein visuelles Fest. Ich hab in jedem Gebiet erstmal stehen bleiben müssen, einfach um die Komposition zu bewundern. Es gibt sogar eine Weltkarte, über die man von Ort zu Ort reist – ganz oldschool und mit späteren neuen Wegen dies auf schnellere Art und Weise zu tun, sei es auf dem Wasser oder sogar hoch hinaus in der Luft.

Eine Ode an rundenbasierte Kämpfe, die euch aktiv werden lassen
Was mich aber wirklich gepackt hat, war das Kampfsystem. Clair Obscur ist rundenbasiert, aber kein träge klickbares Menü. Da steckt richtig Tiefe drin, womit auch mein Vergleich zu Lost Odyssey oder auch Shadow Hearts herführt. Jeder Charakter hat Nah- und Fernkampfattacken, wobei letztere manuell gezielt werden müssen. Nahkampf generiert Aktionspunkte (AP), Fernkampf verbraucht sie. Skills brauchen ebenfalls AP, das sind Spezialattacken, und jeder Charakter hat seine eigenen. Obendrauf hat jede Figur noch ein besonderes Attribut: Gustave z. B. kann „Overcharge“-Stacks aufbauen, die er gegen mächtige Angriffe eintauscht. Lunes Zauber hinterlassen elementare „Stains“, die andere Zauber verstärken. Und mein Liebling: Maelle, kann zwischen drei Haltungen wechseln, die Angriffs-, AP- oder Verteidigungswerte pushen und Monoco, der sich einfach in jeden Gegnertyp verwandeln kann, sollte ihr vorher durch Besiegen dessen Fuß gesammelt haben, großartig. AP-Management, Kombos, Vorausplanung, alles zählt. Ihr seht die Zugreihenfolge wie in FFX links am Bildschirmrand. Aber das ist nur die halbe Miete. Die andere Hälfte? Das Timing. Ihr klickt nicht nur rum und schaut zu. Wenn Gegner Euch angreifen, könnt Ihr ausweichen, parieren oder springen. Ausweichen vermeidet Schaden, Parieren kontert und bringt Euch AP, ist aber schwieriger. Und manchmal kommt Ihr nur mit einem Sprung durch. Klar, man kann auch einfach den Klassiker spielen: Gesicht als Schild. Aber bei den härteren Kämpfen müsst Ihr Euch mit dem Defensivsystem auseinandersetzen. Und wenn Ihr einen Gruppenangriff pariert? Dann schlägt das ganze Team mit einem wunderschönen Konter zurück. Und auch bei Angriffen gibt es Tasten, die ihr drücken könnt, um den Schaden zu erhöhen, was bei Gefallen aber auch ausgestellt werden kann. Und wenn Charaktere in ihren Fähigkeiten und ihrem Beziehungsstatus zu anderen Gruppenmitgliedern wachsen, schalten sie sogar noch mächtigere sogenannte „Gradienten“-Attacken frei. Diese mächtigen Angriffe verbrauchen die Runde eines Charakters nicht, aber Feinde haben ihre eigenen Gradienten-Angriffe, die mit einem speziellen Konter pariert werden müssen.

Früh im Spiel bin ich einem Gegner begegnet, der mein Team mit einem Treffer erledigen konnte. Aber er musste treffen. Wenn ich richtig pariert hab, konnte ich ihn besiegen. Ich hab ein paar Anläufe gebraucht, aber als ich rausfand, wie ich den ersten Schlag pariere und dem zweiten ausweiche, hatte ich ihn. Und das etabliert ein sehr faires System die Schwierigkeit im Spiel zu balancen. Denn meisterst ihr dieses System, könnt ihr es theoretisch mit allen Gegnern sofort aufnehmen und müsst nicht zwingend im Level aufsteigen, um gegen einen Boss zu bestehen. Noch dazu ist es sehr motivierend und es fühlt sich wunderbar an, wenn man einen Gegner nicht an sich heranlässt, um ihn dann mit einem Konter den Rest zu geben. Dann gibt’s noch das System aus „Pictos“ und „Luminas“. Ihr könnt drei Pictos pro Figur ausrüsten, die geben z. B. Effekte wie „Schüsse entzünden Gegner“, „mehr Schaden“ oder „nach einem Kill mehr AP“. Nutzt Ihr ein Picto oft genug, können alle Charaktere dessen Effekte übernehmen, wenn sie genug Punkte haben. Und hier könnt Ihr richtig kreativ werden. Maelle hat z. B. einen Skill, mit dem sie in die „Virtuose“-Haltung geht (200 % Schaden), wenn der Gegner brennt. Normalerweise müsste jemand anderes den Gegner erst anzünden. Aber was, wenn Ihr Gustave und Lune ein Lumina gebt, das Feuer mit Fernangriffen auslöst? Oder ein Picto, das Basisschaden steigert oder bei perfekten Paraden AP gibt? Damit lassen sich wirklich richtige Builds und Synergien unter den Charakteren bilden.

Audiovisuelle orchestrale Pracht
Die Umgebungen sind wirklich atemberaubend. Die schiere Dichte der Bilder, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sehen sind, ist großartig und wird durch den Detailgrad, die Partikeleffekte und die Animationen noch verstärkt. Es ist die Art von visueller Pracht, die weit über das hinausgeht, was man von einem so kleinen Team wie Sandfall erwarten würde und die Versuchung, einfach nur ehrfürchtig aus der Ferne zu staunen, ist entsprechend groß. Es gibt derart viele wunderschöne Gebiete, die an mannigfaltigem Farbenreichtum wirklich nur so strotzen und auch immer wieder etwas neues zum Staunen bieten. Doch sobald es ans Erkunden dieser üppigen, detailreichen Welt geht, fühlt es sich etwas zurückhaltend an, da innerhalb der Locations auch eine Mini-Map schmerzlich fehlt, die einem beim Durchwühlen des verzweigten Wegenetzes helfen würde. Immerhin lohnt sich das Herumstöbern in diesen Abzweigungen fast immer: Am Ende wartet meist irgendein leuchtender Schatz, weiße Kugeln mit Standard-Beute wie Chroma-Währung, seltener aber auch violette Orbs mit Picto-Rüstung zur Stärkungs-Verbesserung oder Chroma-Katalysatoren zum Waffen-Upgrade, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Häufig werden diese Items von starken Gegnern bewacht und selbst scheinbar harmlose Funde entpuppen sich oft als fiese Hinterhalte, nach denen man sich wieder zurück zum Hauptweg kämpfen muss. Klingt erstmal alles recht solide – aber die tatsächliche Navigation durch diese prachtvollen Areale geriet für mich überraschend schnell zur Geduldsprobe. Und ich durchstreife eh immer alles, was meine Sammelwut-FOMO auf Anschlag bringt, was ich grundsätzlich liebe, solange ich weiß, wo der Hauptpfad verläuft.

Aber Clair Obscur verzichtet leider komplett auf irgendeine Art von Karte, die einem in diesen großflächigen, einschüchternden Umgebungen Orientierung bieten könnte und ständig gegen unsichtbare Wände zu laufen oder dieselben Wege doppelt zu gehen, war mitunter etwas verwirrend. Aber wir haben noch gar nicht über die traumhafte Musik im Spiel gesprochen. Diese ist meist sehr klassisch und orchestral gehalten und vermittelt durchgehend wunderbar die Atmosphäre, häufig auch gepaart mit sehr einprägsamen französischen Lyrics, die sogar etwas zur Welt des Spiels beitragen. Ich habe wirklich selten einen so guten Soundtrack gehört, der mich teilweise sogar einfach nur stehend zuhören ließ, um die Atmosphäre in dem Moment richtig aufnehmen zu können. Es ist ganz klar, dass das Team von Sandfall Interactive mit Leidenschaft an diesem Projekt arbeitet und das Genre liebt. Diese Leidenschaft überträgt sich auf fast jede Ebene des Spiels. Innerhalb von fünf Jahren hat das recht kleine Studio aus Frankreich hier wirklich etwas Besonderes geschaffen. Die Geschichte ist greifbar, emotional und fesselnd. Es ist eine, die sofort fesselt, sich aber nicht wie etwas anfühlt, das man schon einmal gespielt hat, und die sich, zumindest bei mir, nicht durch jahrzehntealte Tropen belastet fühlt. Die Charaktere sind emotional, fehlerhaft und beschädigt. Sie fühlen sich vor dem Hintergrund der reinen Fantasie geerdet, was ich begrüßt habe.

Mehr Endgame-Vielfalt und Nebenaktivitäten, als man denkt
Das Spiel wurde vorab als eher kürzeres RPG beschrieben, doch was hier an versteckten Aktivitäten, Minispielen und enthüllbaren Storysequenzen versteckt ist, wird dem wirklich nicht gerecht. Denn spätestens wenn ihr die Möglichkeit habt, die Map fliegend zu durchqueren, öffnen sich euch sehr viele neue Pfade. Seien es Kampfarenen, Nevros, die eure Hilfe benötigen oder weitere Gestral-Strände, die ihr bereits während der vorherigen Akte besuchen konntet. Innerhalb dieser gibt es immer eine verrückte Aufgabe, um neue Kostüme oder Frisuren freizuschalten. Sei es ein Hindernisparkour, eine eigene Version von dem Spiel Getting Up, Bomben-Volleyball oder eine Art Quiz. Auch Abkürzungen und Hindernisse, die erst freigeschaltet werden müssen, konnte ich in der Oberwelt entdecken und Gebiete mit höheren Gegnerstufen waren stets deutlich durch große rote Warnzeichen markiert. Hat mich aber nicht davon abgehalten, es trotzdem zu versuchen – einfach um zu sehen, ob ich vielleicht doch eine Chance habe, denn ausweichen kann man ja immer. Und häufig lohnt der Blick, denn neben neuen Waffen, ganzen Dungeons oder kleineren Missionen gibt es eben hier auch ganze versteckte Story-Bosse, für man schon eine geeignete Taktik, bzw. einen guten Build aus drei Charakteren bereit haben will.

Fazit
Clair Obscur: Expedition 33 ist ein besonderes Rollenspiel, das voller Liebe und Leidenschaft steckt. Es ist wunderschön, der Soundtrack eine Pracht, die Kämpfe fordern einen stets heraus ohne dabei unfair zu sein oder den Spaß zu verlieren und die Geschichte bietet einen ungewohnt erwachsenen Ansatz. Samt großartiger schauspielerischen Leistungen, knallharter Wendungen und allerhand Endgame-Content werdet ihr hier lange Spaß haben. Solltet ihr je vorgehabt haben mal ein RPG zu spielen, spielt dieses.

Positiv:
+ unfassbar schön gestaltete Locations
+ durchdachtes Worldbuilding
+ orchestrale musikalische Untermalung, die begeistert
+ toller Cast mit sehr guten Synchronstimmen
+ Kämpfe bleiben durch die Action-Komponente immer fair und spaßig
+ sehr erwachsener und unbarmherziger Ton der Geschichte
+ viel Endgame-Content & witzige Minispiele
+ kein Vollpreis
Negativ:
– recht simple Dungeons
– fehlende Mini-Map frustet häufig