Seit sieben Jahren hat sich das britische Studio Rebellion vor allem auf Fortsetzungen konzentriert: Evil Genius 2, Zombie Army 4, Sniper Elite 5, alles solide bis starke Spiele, aber eben auf bekannten Formeln aufgebaut. Mit Atomfall bringt Rebellion nun zum ersten Mal seit Strange Brigade eine komplett neue Marke und verlässt dabei ausgetretene Pfade. Statt purer Action gibt’s Mystery, Spannung und viel Atmosphäre, irgendwo zwischen Disco Elysium und Immersive Sims wie Deus Ex oder PREY. Ihr schleicht euch durch Gebiete, in die ihr eigentlich nicht gehört, spielt verschiedene Seiten gegeneinander aus und versucht, aus einer britischen Quarantänezone zu entkommen. Das Ganze ist so gut umgesetzt, dass Atomfall vielleicht sogar Rebellions bisher bestes Spiel ist. Doch mehr dazu in unserem Test.
Die Endzeit in England
Die Story spielt im Lake District im Norden Englands. Das kleine Dorf Wyndham und die Umgebung wurden nach einem (realen) Atomunfall bei Windscale in dieser alternativen Zeitlinie komplett abgeriegelt. Fünf Jahre lang hat dort niemand rein oder raus gekonnt. Jetzt patrouillieren Roboter durch die Straßen, und fanatische Sekten machen Jagd auf alle, die sich nicht ihrer Ideologie anschließen. Ihr wacht in einem Bunker mitten in dieser Zone auf. Ziel: raus hier. Doch wie immer ist das leichter gesagt als getan. Gerüchte, Verschwörungen und falsche Fährten prägen das Bild, und nicht jede Entdeckung bringt euch wirklich weiter. Oft landet ihr in Sackgassen – oder merkt zu spät, dass ihr jemandem auf den Leim gegangen seid. Das macht den Reiz von Atomfall aus: Ihr seid ständig am Zweifeln, ständig am Nachdenken, und häufig versucht ihr, mit einem alten Speicherstand doch noch einen anderen Weg zu gehen.

Das Spiel ersetzt klassische Rollenspiel-Quests durch sogenannte „Leads“ – also Hinweise. Keine automatischen Wegmarkierungen, sondern Gespräche, Notizen, Beobachtungen. Die Hinweise werden im Menü gesammelt und verknüpft – so verfolgt ihr eine übergreifende Fluchttheorie statt nur einzelne Aufgaben abzuarbeiten. Findet ihr genug Hinweise, markieren sich Orte auf eurer Karte, die ihr dann weiter untersuchen könnt. Und ob dort wirklich ein Ausweg wartet oder nur heiße Luft, findet ihr erst vor Ort heraus. Es gibt viele Möglichkeiten, das Spiel zu beenden – und mindestens genauso viele, die ins Leere führen. Perfekt für mehrere Durchläufe.

Merkwürdige Gefühle innerhalb der Kämpfe
Das Gameplay basiert auf vier Säulen: Erkunden, Reden, Craften und gelegentlich Kämpfen. Wyndham ist das Zentrum, drumherum liegen verschiedene Zonen, verbunden durch kurze Ladebildschirme. Im Dorf geht’s mehr um Gespräche und Schleichen, außerhalb wird gekämpft – ob mit Gewehren oder Nahkampfwaffen. Überleben müsst ihr trotzdem: Munition, Ressourcen und Heilung müsst ihr selbst besorgen. Auch wenn das Spiel als „Survival-Action“ beworben wird, hat es damit nicht viel zu tun. Es gibt keine Hunger-, Durst- oder Schlafanzeigen. Das Crafting ist simpel, aber sinnvoll – und es gibt eigentlich immer genug Material, um sich frei entfalten zu können. Wenn ihr kämpfen müsst, wird’s allerdings etwas holprig. Die Nahkampfwaffen fühlen sich oft matschig an, Trefferfeedback ist schwach, und auch Schusswaffen machen wenig her. Schleichen und das Reinschleichen in verbotene Bereiche wirken wie nachträglich eingebaute Features – funktionieren okay, sind aber kein Highlight. Das Spiel ist am besten, wenn ihr Leads verfolgt, Gespräche führt, Theorien spinnt. Also eher Spionage als Shooter – Agent statt Actionheld. Da schwächelt Atomfall ein bisschen, wenn es zu viel auf Kampf setzt.

Was Rebellion dafür exzellent gelingt, ist die Atmosphäre. Wyndham ist ein Paradebeispiel für ein englisches Dorf: Trockensteinmauern, Dorfkneipe, Gemeinschaftssaal – alles, wie man’s kennt. Über Lautsprecher wird mit konservativen Slogans und typischem Kleinstadtgehabe gespielt – ein sarkastischer Kommentar auf britische Politik und Gesellschaft. Nicht alles wird für Nicht-Briten auf Anhieb zünden, aber wer das Landleben kennt – wo jeder jeden kennt und Tratsch wichtiger ist als Fakten – wird sich in Wyndham sofort zu Hause fühlen. Die Grafik ist solide bis schön, gerade Wyndham ist trotz Ruinen hübsch anzusehen. Die Umgebung steckt voller Details, unterirdische Areale und markante Orte laden zum Erkunden ein. Atomfall ist ein mutiger und gelungener Neuanfang für Rebellion – weg von der Serienware, hin zu einem durchdachten, stimmungsvollen Mystery-Abenteuer. Wenn ihr auf intelligente Storys, schräge Dörfer und das Gefühl steht, jederzeit auf der falschen Spur zu sein – dann ist Atomfall genau euer Ding.

Fazit
Atomfall bringt eine so ungewöhnliche Welt, dass man regelrecht davon eingenommen werden kann. Das Mysterium der Story und die vielen Hinweise und Rätsel halten eine sehr gut bei Laune, wenn man sich darauf einlässt. Das kann man von den Nahkämpfen und Schusswechseln zwar leider nicht behaupten, Rebellion hat hier aber in jedem Fall etwas Einzigartiges geschaffen.

Positiv:
+ frische Prämisse wunderbar umgesetzt
+ Detektiv-Gameplay voller Rätsel motiviert
+ könnte kaum britischer sein
Negativ:
– Nahkämpfe und Schusswechsel fühlen sich überhaupt nicht zufriedenstellend an
– teils viel Umhergesuche nach Hinweisen