Anthem Review – Die Iron Men der Seelenlosigkeit

Als Bioware Anthem auf dem Xbox Media Briefing der E3 2017 im Zuge der Präsentation der Xbox One X erstmals der Öffentlichkeit präsentierte, war die Freude zwar vorhanden, allerdings auch die Skepsis groß: Durch das bei Fans gnadenlos gefloppte Mass Effect Andromeda und dem gezeigten Material, dass stark an einen Lootshooter im Stil von Destiny erinnerte, waren die Blicke doch recht streng auf den Titel, der auch den Beginn eines neuen Onlineuniversums samt eigener Lore markieren und dabei den Bioware-typischen Fokus auf viel Story legen soll, gerichtet. Seit dem 15.Februar (beziehungsweise 22.Februar für Käufer der Standard Edition) sind die Server von Anthem nun online und wollen seitdem eifrig von den Spielern erforscht und gelootet werden. Erfahrt in unserem Review, warum Biowares nächstes Projekt in seiner jetzigen Form eine herbe Enttäuschung ist.

Das alte Bioware scheint sich endgültig verabschiedet zu haben

Die Story von Anthem spielt auf dem fernen Planeten Bastion und dreht sich um die Hymne der Schöpfung, einer mysteriösen Anomalie, die sämtliche Formen annehmen kann, sich nicht konzentrieren lässt und dabei üble und zerstörerische Wesen namens Kenotaphen hervorbringt. Um die Bedrohung in Schach zu halten formieren sich mutige Freiwillige zu den Freelancern und erhalten dabei eigene Kampfrüstungen namens Javelins, mit welchen Sie in bester Iron Man Manier durch die Lüfte fliegen und längere Distanzen zurücklegen können. Euer namenloser Freelancer wird zusammen mit seiner Einheit von den besagten Kenotaphen bei dem bislang schlimmsten Ausbruch der Hymne namens Herz des Zorns, welche bei ihrem Ausbruch durch die Jagd des faschistoiden Dominions nach einem Relikt für die Kontrolle nach der Hymne die Stadt Freiburg auslöschte, aufgerieben. Die Freelancer verlieren aufgrund ihres Rückzugs ihr Gesicht und das Vertrauen der Gesellschaft und so haltet ihr euch Jahre später zusammen mit dem jungen ehemaligen Straßendieb Owen, der euren Javelin wartet, gerade so mit kleinen Aufträgen über Wasser.

Doch eines Tages werdet ihr von Tassyn, Chefin des Geheimdienstes von Corvus, dem obersten Führer von Bastion, mit der Suche nach dem Gelehrten Matthias beauftragt und erlebt hierbei den Wiederaufstieg des bei der Zerstörung von Freiburg als ausgelöscht gegoltenen Dominion unter der Führung des mächtigen und gnadenlosen Monitor, den ihr nur mit einem speziellen Javelin besiegen könnt. Für die Suche nach diesem antiken Javelin benötigt ihr die Hilfe von alten Freunden, welche ihr im Laufe des Spiels wiederfinden müsst. Insgesamt ist der Anfang von Anthem bombastisch sowie mit viel Story in Szene gesetzt und die konstant (gut gemachte) Interaktion eures Hauptcharakters mit den anderen Personen macht Spaß, doch mit jeder Stunde nimmt der anfängliche Eindruck immer mehr ab und lässt den Titel bereits hier schon in die Durchschnittlichkeit abrutschen: Die Story spielt sich in großen Stücken meist in eurem Hub Fort Tarsis ab, so dass ihr immer wieder raus aus eurem Javelin und rein in die Stadt fliegen müsst. Die Rundgänge gestalten sich hierbei extrem mühseelig und euer Charakter bewegt sich quasi im Schneckentempo. Zwar wird dies laut Bioware noch mit einem Patch verbessert, bekannt ist die Kritik an der Geschwindigkeit allerdings schon seit der VIP Demo, welche vor ein paar Wochen erschienen ist.

Die Dialoge mit den Charakteren selbst wirken inkonsequent: In den Storysequenzen klar sichtbare Differenzen zwischen euch und den anderen Charakteren sind in den kleinen Gesprächen auf Fort Tarsis eigentlich schnell vergessen. Das hinterlässt ein wenig den Eindruck, als wäre sämtliche Hauptakteure etwas instabil in ihren Emotionen. Auch die von Bioware typischen Antwortmöglichkeiten lassen jede Sichtbarkeit eines alternativen Storyverlaufs vermissen, da beide Optionen eigentlich fast den gleichen Ausgang bieten. Das wirkt nicht nur plump aufgesetzt, viel mehr stört es auch die Immersion zu den Storysequezen und der Action in den Mission und dem Freeplay.

Die Story selbst macht wie Eingangs erwähnt Anfangs Spaß, zeigt aber jedoch ab einer gewissen Mission massive Schwächen und verkommt nach selbiger zu einem einzigen Durchlauf für das Endgame: In der besagten Quest müsst ihr nämlich eine ganze Reihe von Spezialmanövern wie eine bestimmte Anzahl an Nahkampfattacken oder Ultimate Kills ausführen, um vier bestimmte Punkte für den Storyfortschritt freischalten zu können. Zwar sind diese nicht wirklich schwer zu meistern, dennoch stört diese zähe Mission, welche sich perfekt für das Endgame und definitiv nicht für die Einstiegsphase eines Lootshooters mit viel Story eignet, den Fluss der insgesamt 12 bis 15-stündigen Story komplett und ist nicht nur ein schweres Leck im Storytelling, sondern verdeutlicht erste essenzielle Schwächen im Gamedesign.

Tolle Action … und der Rest?!

Spielerisch funktioniert Anthem am besten bei seinem eigentlichen Alleinstellungsmerkmal, nämlich dem Kampf und Flug mit den Javelins. Das Feeling der Kampfanzüge ist hervorragend gelungen, macht Spaß und geht dank der simplen Steuerung flott von der Hand. Für ein paar Stunden fühlt man sich tatsächlich wie Iron Man und möchte immer wieder zurück in den Anzug, um die vielen Horden von Gegnern den Gar auszumachen. Doch sämtliche anderen Elemente, welche man zwischen den Missionen, funktionieren zum Teil sehr mühsam: Beginnend bei einer fummeligen Bedingung des Questjournals und der Map ist bei Anthem auch kein Wechseln der Quest innerhalb der Openworld möglich, so dass ihr für den Start einer Quest oder des Freeplays jedes Mal nach Fort Tarsis zurück müsst. Das Design der Mission teilt sich grob in die drei Bereiche beschützen, sammeln und vernichten auf und geht hierbei keinen Schritt abseits der Konkurrenz, um eigenständige Impulse mitbringen zu können.

Die Waffenauswahl besteht bis zum Endgame aus Standardgeräten und bietet abseits der üblichen Auswahl von Sturmgewehren, Pistolen, LMGs und Konsorten nichts eigenes. Auch die zusätzlichen Fähigkeiten für euren Javelin sind generisch und taktisch nicht von Relevanz, sofern ihr genug Feuerkraft besitzt. Die Welt von Bastion fällt für eine Open-World erschreckend klein aus und ähnelt so gar nicht dem, was man eigentlich von Bioware beziehungsweise in Sachen Lootshooter von der Konkurrenz gewohnt ist. Sogar die nachträglich implementierte freie Welt in Warframe ist gefühlt doppelt so groß wie jene von Bastion. Auch ist Bastion ein einziger großer Dschungel mit Höhlen und bringt sonst keinerlei anderen Landschaften oder gar eine Abwechslung mit.

Der schönste Loading Screen Simulator aller Zeiten

In Sachen Grafik kann Anthem wie auch schon in den anderen Bereichen auf den ersten Blickt eindeutig punkten, denn das Spiel sieht in seinen schlechtesten Momenten mindestens gut und in seinen besten einfach umwerfend aus: Bastion mit seinen Tropenlandschaften ist traumhaft, die Effekte spektakulär, Fort Tarsis und die Wettereffekte sind durchwegs gelungen. Auch werdet ihr kein Gesichtskino wie in Andromeda, sondern gute bis teils sehr gute Animationen der Charaktere erleben, auch wenn diese sich teils deutlich in den Zwischensequenzen und Dialogen auf Fort Tarsis unterscheiden. Nach einer gewissen Zeit ist die Liste an technischen Problemen von Anthem leider jedoch erneut lang: die 30FPS auf der Xbox One X brechen immer wieder in Richtung der 20 runter und teilweise gibt es Glitches in den Ladebildschirmen.

Um auch gleich auf die Ladebildschirme und das wahrscheinlich größte Problem in Sachen Technik zu kommen: in Anthem gibt es viele Ladebildschirme … sehr viele Ladebildschirme. Fast jede Bewegung in einen anderen Bereich wird von einem Ladebildschirm verfeinert. Beginnt ihr eine Mission, müsst ihr zur Bestimmung eures Loadouts die Schmiede und damit den ersten Ladescreen aufrufen. Steigt ihr in euren Javelin und wählt die Mission aus, startet der nächste (und teils mit ein bis zwei Minuten unverschämt lange) Ladebildschirm. Betretet ihr innerhalb einer Mission den Bossbereich, so habt ihr den nächsten Ladebildschirm. Nach Abschluss der Quest kommt dann auch schon der nächste Ladebildschirm, nur um von einem weiteren Ladebildschirm nach Fort Tarsis verfolgt zu werden. Die massive Anzahl der besagten Bildschirme ist kurzgesagt eine mittelschwere Katastrophe und sollte von Bioware als erstes in Angriff genommen werden, da die Immersion hier komplett einbricht und die gesamte Anzahl störend wirkt.

Neben kleineren Abstürzen der Netzwerkverbindung, die auch einen Abbruch des Spiels zur Folge haben, kämpft Anthem auch noch mit Problemen beim Sound: so kam es auf unserer Xbox One X immer wieder zur Aussetzern, was teils einfach nur störend ist und bereits bei Mass Effect Andromeda ein Problem darstellte. Die Effekte der Waffen sind durchwegs monoton und laufen fast alle in derselben Rhytmik ab, was den Eindruck erweckt, als hätte man hier eine Vorlage für sämtliche Waffen verwendet und diese nur leicht modifiziert. Einzig bei der Steuerung kann Anthem zumindestens im Kampf auftrumpfen, die Steuerung innerhalb der Menüs fällt leider ähnlich kompliziert wie das Questjournal selbst aus.

Es ist schwer die Eindrücke in Worte zu fassen, ohne dabei zu kritisch zu wirken, aber dass es sich hierbei nicht um kleine Probleme, die sich mit einem Update beheben lassen, sondern um fundamentale Probleme beim Design des Spiels selbst handelt, kann Anthem spätestens bei der Ambivalenz eines großartigen Actionfeelings hin zu der Ernüchterung und Mühsamkeit der anderen Elemente des Gameplays nicht leugnen. In anderem Worten: Anthem wirkt in seiner Umsetzung leider seelenlos. Bioware muss seinen neuesten Titel in den nächsten Monaten mit vielen Updates sowie einfallsreichem Content pflegen, da es in Anbetracht der momentanen technischen Probleme und seines dünnen Inhalts derzeit in keiner Konkurrenz zu Größen wie Destiny 2 oder Warframe steht.

Fazit

Anthem ist in seinem derzeitigem Zustand ein anfänglich nettes Actionspiel, dass mit starken Schwächen im Game- und Missionsdesign, einem trägen RPG Teil, einer schwachen Story, einfallslosem Mechaniken und vielen technischen Problemen schnell seinen Reiz verliert. Wir raten derzeit in jedem Fall von einem Kauf ab oder bei Interesse höchstens zu einem Test der Play Fist Trial über EA oder Origin Access, um sich den Titel bei eventueller Genesung in ein paar Monaten noch einmal genauer anzusehen.

Positiv

+ Action macht anfänglich Spaß

+ Steuerung der Javelins gelungen

+ sympathische Charaktere

+ eigener Charakter wirkt präsent

Negativ

– einfallsloses Missionsdesign

– lieblos präsentierte Story

– kaum eigenständige Items, nur Standardware

– Openworld sehr klein und leblos

– Dialoge haben keine Bedeutung für Story oder das Spiel selbst

– ausser Javelins kein Alleinstellungsmerkmal

– horrende Anzahl von Ladebildschirmen

– Performanceprobleme

– Aussetzer beim Sound

– umständliche Menüführung

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Written by: Patrice Naderi

Multikonsolero, Film- und Seriennerd aus Leidenschaft, Technikjunkie, Comicsammler, Sportfan und Müslivernichtungsmaschinerie.